Falsche Fußball-Logik
von Oliver FritschDie Samstag-Sportschau der ARD ist wieder mal in die Kritik geraten, zu viel Werbung zu machen. Diese Debatte gabs bereits im Herbst 2005. Mal zwei beiläufige Anmerkungen zum Inhalt der Sendung vom 17. März:
Erstens hat Jürgen Bergener in der Zusammenfassung Schalke gegen Stuttgart auf einen fehlerhaften und vermeintlich folgenschweren Eingriff der Spielleitung aufmerksam gemacht. Ein Foul von Thomas Hitzlsperger erachtete er für Gelb-würdig; doch die Karte blieb wegen der „weichen Entscheidung“ (Bergener) des Schiedsrichters aus. So weit, so gut. In der folgenden Szene foulte Hitzlsperger erneut und meckerte obendrein – jetzt gabs Gelb. Bergener schloss daraus, dass Hitzlsperger nun vom Platz gestellt worden wäre, wenn der Schiedsrichter in der ersten Situation richtig entschieden hätte; die Stuttgarter hätten also in Unterzahl weiterspielen müssen. Doch diese Bemäkelung verrät ein falsches Verständnis von der Logik und der Chronologie des Fußballspiels. Und auch eine Verkennung der Gelben Karte in ihrer Funktion als Verwarnung. Ein Spieler, der schon Gelb gesehen hat, wird sich in der Folge zurückhalten (zumindest wenn er schlau ist). Denn er ist ja verwarnt worden.
Zweitens kommentierte Monica Lierhaus die Niederlage der Bayern in Frankfurt, die zu einem 9-Punkte-Rückstand des Tabellenvierten auf Schalke führt, mit der Frage: „War das die Entscheidung im Meisterkampf?“ Nein, kann man da nur sagen, denn es braucht nicht viel, und Werder Bremen ist nach dem nächsten Spieltag Tabellenführer. Von Entscheidung im Meisterkampf kann keine Rede sein. Dieser Einwand mag spitzfindig klingen, denn wir wissen ja, wie es gemeint ist. Doch offenbart ihre Formulierung eine unangebrachte Fixierung auf Bayern München. Doch die Musik scheinen diese Saison andere zu machen.
Auch Wolf-Dieter Poschmann im aktuellen sportstudio (ZDF) verengt die Titelfrage, auch er redet von der „Vorentscheidung“. Es geht bei den Öffentlich-rechtlichen darum: Werden die Bayern Meister oder nicht? Statt: Wer wird Meister?
Der Skorpion und seine historischen Vorbilder
von Oliver FritschZwei sensationelle Tore gabs im Spiel zwischen Schachtjor Donezk und FC Sevilla im Rückspiel des Uefa-Cup-Achtelfinales. Ach wie schön, dass es YouTube gibt. Hier sind sie also:
Das Ausgleichstor für den FC Sevilla durch Torhüter Palop in der Nachspielzeit, das die Verlängerung (und Sevillas Sieg) zur Folge hatte.
Matuzalem hatte zuvor für Donezk mit dem „scorpion kick“ getroffen.
Das Original: der Skorpionsstich René Higuitas.
Doch halt! Der Original-Skorpion war natürlich Fritz Walter. Aber hier versagt YouTube, denn von dem Treffer von 1956 gibt’s nur ein Foto. Stattdessen eine Menge Beschreibungen (hier die des Hamburger Sportwissenschaftlers Brode-Jürgen Trede).
Van Bommel, Frings 2.0?
von Oliver FritschDie Sperre gegen Mark van Bommel ist schon sehr seltsam, nun muss er beide Spiele gegen Mailand zuschauen. Mein Gott, was hat er denn getan? Ein bisschen gerangelt. Mit der Gelb-Roten Karte muss er leben, wenngleich auch sie bereits eine sehr strenge Regelauslegung bedeutet. Aber dass der Uefa nun auch noch die Bewährungsstrafe aus dem Hinspiel in den Sinn kommt, als van Bommel die Zuschauer mit einer Jubelgeste beleidigt haben soll, wirkt an den Haaren herbeigezogen. Die Bayern regen sich (ausnahmsweise mal) zurecht auf. Eine angebliche Provokation gegenüber den Zuschauern und eine Schubserei mit einem Gegenspieler – das sind doch zwei verschiedene Delikte.
Van Bommels „Kampf“ mit seinem Gegenspieler Diarra
Van Bommels Gruß ans Madrider Publikum
Die Süddeutsche allerdings erachtet die Strafe als gerecht. Aufschlussreicher ist aber die Diskussion in ihrem Forum, die unter den Stichwörtern „Italien“, „Pizza-Boykott“ und „Materazzi“ geführt wird. Logisch, dass die ganze Sache an das WM-Halbfinale erinnert, in dem auch die Italiener von der Torsten-Frings-Sperre profitiert haben – aus meiner Sicht der Skandal der WM, den die deutschen Medien allerdings verschlafen haben. Womit ich aber keine antiitalienische Verschwörungstheorie angedeutet haben will. Ich erachte die Strafe gegen Frings schlicht als Fehlurteil der Fifa.
Frings haut die Argentinier windelweich
Fest steht auch: In Deutschland wäre das den Bayern nicht passiert. Als im September 2006 Lucio wegen einer Tätlichkeit im Pokalspiel auf St. Pauli die Rote Karte sah, wurde er für drei Spiele gesperrt. Auf öffentlichen Druck der Bayern reduzierte das Sportgericht die Strafe um zwei Spiele.
Ãœber Parallelen zwischen 1. und 3. Liga
von René MartensObwohl Jürgen Röber bei Borussia Dortmund heute Platz gemacht hat für den dritten BVB-Trainer der Saison, wage ich einmal die Prophezeiung, dass es der Klub nicht mehr schafft, der KSV Holstein Kiel der Bundesliga zu werden. Beim nördlichsten Regionallligaklub sitzt in dieser Saison nämlich mittlerweile schon der vierte Trainer auf der Bank (nach Frank Neubarth, Interimscoach Klaus Thomforde und Stefan Böger jetzt Peter Vollmann). Die beiden Ex-Deutschen Meister (ist bei Holstein schon 95 Jahre her) ähneln sich derzeit nicht nur, was den Trainerverschleiß betrifft. Wie für die Dortrmunder kam es auch für die Kieler unerwartet, dass sie in den Abstiegskampf verwickelt wurden. Holstein ging mit dem höchsten Etat aller RL-Nord-Klubs in die Saison, und anfangs konnte man sich auch noch über die Teilrenovierung des bis dato atmosphärearmen Stadions freuen. Statt Kiel kämpfen nun elf andere Klubs um den Aufstieg, und hier kann man wieder einen Schlenker zur 1. Liga machen: Der Kampf um die Aufstiegsplätze in der RL Nord ist mindestens so aufgerend wie in der Top-Liga der gegen den Abstieg: Zwischen den Plätzen 3 (berechtigt zum Aufstieg, weil davor die Zweite des HSV steht) und 13 liegen nur drei Punkte Unterschied. Gedämpft wird die Spannung – und das sage ich trotz meiner Zuneigung zum FC St. Pauli, der noch um den Aufstieg mitwurschtelt – allein dadurch, dass die Liga, nicht nur ausgeglichen, sondern ausgeglichen schwach ist.
VfB-Glück ist flüchtig
von Oliver FritschAls Sportjournalist, der was auf sich zählt, läuft man immer Gefahr, Kredit zu verspielen, wenn man sich als Anhänger eines Vereins zu erkennen gibt. Es gibt unter den (allerdings wenigen) ideologischen Hardlinern der Branche ein puristisches Credo, dass man kein Fan sein dürfe, weil man sonst nicht kritisch sein könne. Aber: Das entspricht erstens einem beschränkten Verständnis von Fan-Sein und fördert zweitens eine Art fußballemotionales Eunuchentum. Dem ich mich verweigere, denn ich drücke seit rund dreißig Jahren dem VfB Stuttgart die Daumen. Keine Vereinsbrille hat mich jedoch je daran gehindert, mich für unseren ehemaligen Präsidenten immer wieder fremdzuschämen. Und auch darüber, dass in der jüngeren Vereinsgeschichte ein Spieler nach dem Abschluss einer Vertragsverhandlung die Presse einlud, um dann seine Liebe zum Verein vom Blatt abzulesen („Meine Damen und Herren, der VfB ist für mich voll und …“ Pause. Umblätter. „… ganz eine Sache des Herzens.“), stoße ich heute noch auf.
Wie so oft in den letzten Jahren hat auch diese Saison für den VfB Stuttgart einen Verlauf genommen, mit dem keiner gerechnet hat. Diesmal hat der Weg der Unberechenbaren nach oben geführt. Nun kann man in der Wechsel- auch eine Regelhaftigkeit erkennen, und nicht alles muss man gleich zur Sensation erklären. Dass zehn Spieltage vor Schluss das Double noch möglich ist, ja; dass Pavel Pardo Zvonimir Soldo gleichwertig ersetzt hat, auch. Dass es einen staunen lassen soll, dass es sich um einen Mexikaner handelt, wie viele Beobachter betonen, leuchtet mir allerdings nicht ein. Haben wir nicht beim Confed Cup und zum Teil auch an der WM vor unserer Tür gesehen, welch außergewöhnlich guten Fußballer die Mexikaner sind?
Vor dem Karriereende Soldos war es mir in der Tat bange. Jahrelang war Soldo, dessen Bedeutung und Stärke von vielen Journalisten lange unterschätzt wurde, der dominante Spieler. Wer mit ihm nicht zurechtkam, hatte im Team keine Chance. Es gab Zeiten, in denen die Faustregel galt: Spielt Soldo, gewinnt der VfB, spielt Soldo nicht, gewinnt der VfB eben nicht. Übrigens, bei aller berechtigten Kritik an Giovanni Trapattoni – er hat erkannt, wie wichtig es für die Mannschaft ist, sich von Soldo zu emanzipieren.
Im Moment machen sie in Stuttgart eigentlich nichts erkennbar falsch, weder Trainer noch Mannschaft noch Management. Dennoch bleiben wir VfBler unserem Zweckpessimismus treu. Der Stuttgart-Fan weiß: Glück ist flüchtig. Und wenn wir weit vorne landen, verlieren wir wieder unseren besten Spieler. Oder Trainer. Oder beide.
Meister scheint der VfB ohnehin nur in solchen Jahren werden zu können, in denen die Bayern die Tabellenspitze aus der Ferne betrachten – wie bei den beiden einzigen Titelgewinnen in der Bundesliga. Damals hießen die Konkurrenten Hamburg (1984) und Frankfurt und Dortmund (1992). Gegen die Bayern, den Rivalen aus dem Süden, machen sich die Stuttgarter immer kleiner als sie sind. Ein Minderwertigkeitskomplex? Ottmar Hitzfeld tönt seit Wochen unwidersprochen und unbeantwortet: „Stuttgart werden wir sowieso irgendwann einholen.“ Ja, lassen Sie’s gut sein! Wir wissen es doch auch so. Man ist ja schon fast froh, dass es schon demnächst passieren wird – und nicht erst am letzten Spieltag. Bringen wir es hinter uns!
Doch aufhorchen lassen uns immer die Prognosen eines anderen Bayern: die Franz Beckenbauers. 2002 zählte er den VfB zu den Absteigern, und sie wurden am Ende Zweiter. Zu Trapattonis Zeit rechnete er mit dem Meister VfB, und es kam wieder ganz anders. Und was hat er den Italienern vor der WM noch mal prophezeit? Richtig, das Vorrundenaus. An alle Sportwetter: Immer auf das Gegenteil der Expertisen Beckenbauers setzen!
Wenn es etwas gibt, was wir Stuttgarter wirklich fürchten sollten, dann ist es Beckenbauers Voraussage einer großen Zukunft.
#8 meiner Kolumne auf rund-magazin.de
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Ob’s für den VfB-Fan nochmal so schön wird?
Anmerkungen zur Fußballgeschichte I
von Oliver FritschWas ich schon immer mal beim Stichwort Wembley-Tor fragen wollte: Warum macht der zweite englische Stürmer, Martin Peters (21), den Nachschuss nicht einfach rein (oder versucht es wenigstens) – statt sich jubelnd abzuwenden?
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Ein korrigierender Hinweis zu dem Clip: Der gemeinsame Torjubel nach dem Schnitt, war wohl nach dem 4:2, nicht nach dem 3:2. Zurück zum Thema: Klar, hätte Peters den Ball reingemacht, wäre die Fußballgeschichte um einen Mythos ärmer, und wir Deutschen konnten so auch mal erleben, wie es ist, als Leidtragender einer Fehlentscheidung ein WM-Finale zu verlieren. Ist doch schön, dass wir mal die Rolle der aufrechten Verlierer spielen durften. Außerdem rührt Peters‘ kindliche und spontane Reaktion, sich über den Treffer des Mitspielers (Hurst) zu freuen, statt sich selbst als Torschütze feiern lassen zu wollen. Es hat wahrhaft etwas unverdorbenes, aber eben auch etwas unglaublich amateurhaftes.
In diesem Clip wirds noch deutlicher:
[youtube JmYgcpndP9E]
Oder ist es doch ganz anders? Hat Peters gesehen, dass Weber vielleicht doch einen Tick besser zum Ball steht und klären wird und durch das Hochreißen seiner Arme die Entscheidung des Linienrichters Bachramow bewusst beeinflusst?
Lincoln und die Handtasche
von Dr. SoccerMan hört ja immer mal wieder davon, dass das Internet die Journalismus-Branche vollkommen umkrempeln wird – und so ganz allmählich bekommt man auch einen Eindruck davon. Der Sportjournalismus leistet dazu möglicherweise keinen ganz kleinen Beitrag, wie die neuesten Partnerverträge von YouTube mit NBA und NHL zeigen. Der Wandel findet aber auch im kleinen statt – liest man zum Beispiel Raphael Honigsteins wöchentlichen SportBlog bei GuardianUnlimited, spart man die Lektüre von gefühlten 3 Kilo deutsch bedrucktem Zeitungspapier (das man freilich dank indirekter-freistoss.de auch schon lange nicht mehr in die Hand genommen hat).
In Honigsteins letzter Spieltagszusammenfassung lesen wir neben der Haupterzählung, dass Jürgen Klopp nach dem fulminanten Rückrundenstart der Mainzer „Bravehearts“ als ernsthafter Kandidat für das Trainerhochamt bei Bayern München gehandelt wird, auch diesen bravourösen Absatz über die Ereignisse der Schalker Nachspielzeit:
Schalke’s Brazilian playmaker Lincoln was so frustrated after his side’s unexpected 0-1 home defeat to Bayer Leverkusen that he cowardly picked on Bayer’s Bernd Schneider (at 1:30), the one player on the pitch smaller than him. As far as handbags go, Lincoln’s effort was as ugly, unwanted and potentially as costly as the £23,000 monster Louis Vuitton is trying to flog this season.
Auffällig an dieser Beschreibung erscheint das Handtaschen-Wortspiel: das Verb to handbag, in etwa zu übersetzen mit „jemanden grob/rücksichtslos angehen“, wird wirkungsvoll mit dem extrateuren Highlight der aktuellen Louis Vuitton-Kollektion gekoppelt (welches Modell Herr Honigstein da im Auge hat, war allerdings auch nach einer präziseren Online-Recherche nicht zu ermitteln). Nun ist die Handtasche nicht unbedingt das üblichste Utensil in Fußballerkreisen und man könnte schon auf den Gedanken kommen, dass sich gerade hinter dieser Anspielung noch etwas mehr verbirgt, als nur die praktische Wortgleichheit. Die weitere Textauslegung findet noch mehr Hinweise auf ein „unmännliches“ Verhalten des brasilianischen Schalkers – der feige Angriff( cowardly picked) auf einen schwächeren Gegner (the one player on the pitch smaller than him) taugt auch nicht zur Mehrung des Ruhms im Männersport Fußball.
So einfach also? Lincoln im Zickenkrieg mit Bernd Schneider? Bewaffnet mit einem David Beckham zur Ehre gereichenden Ledertäschchen?
Ganz so einfach ist es nicht. (Obwohl die kolportierte Adresse Schneiders an seinen Gegenüber – „Und Du willst Brasilianer sein?“ – ziemlich gut dazu passen würde.)
Denn auf den zweiten Blick steckt hinter dem Tuwort to handbag noch viel mehr, als nur der tätliche Angriff auf einen x-beliebigen Gegner. Hier hilft nun ein Ausflug in die Wortgeschichte, denn der Begriff geht zwar tatsächlich auf eine Urheberin zurück, aber auf was für eine! Ursprünglich bezeichnet handbagging die rhetorische Gnadenlosigkeit Margaret Thatchers, mit der sie vornehmlich im Parlament schwache Widersacher niederzuknüppeln pflegte – rein verbal, versteht sich. Ein Blick in das altehrwürdige Oxford English Dictionary kann dies ausgezeichnet dokumentieren.
Also handelte es sich doch eher um eine besondere Form der „politischen Kommunikation“ zwischen Lincoln und Schneider, zurecht sanktioniert durch den Spielleiter – denn das reine handbagging im Thatcher-Stil bleibt nun mal ein Sprachspiel.
Von einem weiteren close reading sehen wir an dieser Stelle einmal ab – schließlich kümmern sich auch viele der zahlreichen Kommentare zum Blogeintrag um das wesentliche: ob Jürgen Klopp bei einem Wechsel nach München nicht mit Haut und Haaren von Oliver Kahn aufgefressen würde.
Mensch, Werder …
von Detlev ClaussenWenn ein alter Fan an seinem Fußballverstand zweifelt, muß man an eine ernste Krise glauben. In den letzten Monaten des Jahres 2006 hatte man es als Werder-Fan leicht. Ãœberall wurde man mit Komplimenten überschüttet. Geärgert habe ich mich nur über viele Kommentare nach dem Ausscheiden aus der Champions League. Als ob andere Clubs (deutsche?) mit Leichtigkeit Chelsea oder Barca ausgeschaltet hätten! Hätte man mich am Ende der Winterpause gefragt, wie die Werdermannschaft einzuschätzen sei, hätte ich geantwortet, noch nie, seit ich Werderfan bin (also seit Beginn der sechziger Jahre), hat es eine so spielstarke Mannschaft in Grün-Weiß gegeben. Darunter waren Meistermannschaften, ein Europapokalsieger der Pokalsieger – gloriose Wunder von der Weser; aber ernsthaft, kein Vergleich mit der heutigen Mannschaft, die auch noch derjenigen mit Micoud spielerisch überlegen schien. Und nun die Rückschläge … macht auch im Fußball Liebe blind?
Aber Halt, Stopp! Ein Fan, der nur eine schön spielende Mannschaft liebt, die dann auch noch gewinnt, ist gar kein Fan. Die erste Deutsche Meisterschaft, die Werder 1965 unter Willy Multhaup gewann, war vielleicht das Urwunder von der Weser gewesen. Aus einer kleinen Gruppe von eher biederen Fußballern (im harten Kern zwölf Spielern) formierte Multhaup ein modern 4-2-4 spielendes Team, das sensationell alle anderen deutschen Topvereine hinter sich ließ. Der Außenseiter, der seine Chance nutzt – das hat mich zum Fan gemacht. Aber einmal diese Geschichte erlebt, die man identifizierend mitgeht, bleibt man auch in schlechten Zeiten dabei, und man überlegt sich, wie ein solches Wunder wieder möglich ist. Das Weserstadion hatte noch viele Enttäuschungen bereit, unter anderem einen Abstieg von Werder aus der Bundesliga. Doch dann kam Otto Rehhagel, der noch bei Multhaup Anschauungsunterricht genossen hatte, und hat diese Geschichte vom Außenseiter mehrfach wiederholt. Auch wenn man längst nicht mehr die Chance hat, alle Spiele im Stadion zu verfolgen, Fan bleibt man auch in der Ferne, vielleicht noch mehr, als wenn der Weg zum Weserstadion nur ein Fußweg ist. Die Zeiten nach Rehhagels Weggang waren schlimm; vor allem Trainermißgriffe. Freude hatte man nur an Heimsiegen über die Bayern, schon fast kleinkariert. Doch dann kam die Belohnung langen Wartens: Schaaf und Allofs formierten aus Werder eine europäische Spitzenmannschaft in den Zeiten des globalisierten CL-Fußballs. Unglaublich, aber wahr …
Plötzlich vermischte sich beides: die Liebe des Fans und eine Idee, Fußball zu spielen. Werders Fußball sollte in den Augen des Fans beweisen, daß Angriffsfußball erfolgreich möglich ist, auch wenn man nicht über Ressourcen wie Barcelona verfügt. Vielleicht könnte man sich an Lyon orientieren, gegen die es auch schon mal im Jahr 2000 ein (fast vergessenes) Wunder an der Weser gegeben hatte. Aber da fragt sich der Soziologe in mir, Lyon und Bremen im Vergleich? Nicht übermütig werden! Tatsächlich waren die CL-Begegnungen 2004 gegen Lyon ernüchternd; man hatte genau gesehen, woran es Werder sportlich mangelte: an einem international konkurrenzfähigen Abwehrverhalten, ohne dem Offensivfußball abzuschwören. Was nach den verheerenden Niederlagen damals (0:3 und 2:7) galt, gilt heute erst recht: Es wäre dumm, wankelmütig zu werden; nur weil ein paar Spiele einen üblen Ausgang genommen haben. Der Fan muß leiden in solchen Phasen; aber sie bleiben auch den Anhängern von Lyon und Barcelona nicht erspart. Fängt man wieder an, seinen Kopf zu benutzen, dann werden einem die grundlegenden Zusammenhänge zwischen Fußballbetrieb und Offensivfußball deutlich.
Der Alltag des Fußballs, ohne den der Spitzenfußball niemals das inzwischen erreichte Niveau erlangt hätte, überfordert letztlich die Leistungsfähigkeit der Spieler. Die Clubs mit ganz viel Geld versuchen, das Dilemma mit großen Kadern auf höchstem Niveau zu lösen. Trotzdem haben auch sie ihre Schwächeperioden; und die Tatsache, daß noch nie ein CL-Titel verteidigt wurde, kann als Beweis für die mangelnde Reproduzierbarkeit des Erfolgs dienen. Strukturell hat der Ligafußball, also die Regelmäßigkeit des Spielbetriebs, die Defensive begünstigt; es bleibt leichter, ein Spiel zu zerstören als eines aufzubauen. Deswegen hat der Fan auch Kategorien wie „gerecht“ und „ungerecht“ zur Verfügung, um sich über eine Niederlage zu trösten. Der Fußballverstand sagt einem aber, daß jede Niederlage ihre Gründe hat – auch die „ungerechte“. Und eine Niederlagenserie erst recht.
Der einfachste, aber deshalb nicht falsche Gedanke: Keine Mannschaft kann über eine ganze Saison gleichmäßig auf höchstem Niveau spielen. Physische und mentale Erschöpfung gehören zur harten Arbeit des Fußball-Showbusiness. Gerade die großen Extraspiele bei der WM, gleich danach bei der EM Qualifikation und bei der Champions League erfordern bei einer offensiv ausgerichteten Außenseitermannschaft wie Werder Extraanstrengungen, für die auch irgendwann bezahlt werden muß. Ohne dieses Extra aber ist Werder auch „nur“ eine durchschnittliche Spitzenmannschaft, die an gut organisierten Defensiven mehr als einmal scheitern kann. Keineswegs ist ausgemacht, daß die spielstärkste Mannschaft auch Deutscher Meister werden muß. Dazu gehört mehr – ohne auf die fatale Weisheit verweisen zu wollen, Meisterschaften würden in der Defensive gewonnen. Das zumindest haben Fan und Fußballverstand in der Champions League gelernt. Die Defensive beginnt auch und gerade für offensive Mannschaften im Sturm. Der Fußballverstand sollte den Fan in mir zur Ordnung rufen: Ungeduld ist der schlechteste Ratgeber. Aber Fußballverstand haben auch andere; werden sie auch auf Schalke und in Stuttgart die Geduld haben?
Spezies Fußballprofi
von Oliver FritschRené Martens schreibt über Hans Meyers Elfmeterfinte, die in der Tat außergewöhnlich ist und einiges an Mut verlangt hat; im Falle des Misserfolgs hätte er bestimmt Fragen von naseweisen Reporten beantworten müssen. Aber wenn es stimmt, was wir in vielen Zeitungen lesen, hat Meyer nun zwei beleidigte Torhüter am Hals: Klewer, weil er nicht von Beginn an spielte; gut, das kann man noch begreifen. Aber dass auch Schäfer schmollt (er soll sich geweigert haben mitzufeiern), der in der 119. Minute das Feld räumen musste, scheint mal wieder typisch für die Spezies Fußballprofi. Fußballtrainer sind für den Umgang mit ihren Millionären wahrlich nicht zu beneiden. Selbst wenn sie, wie hier, alles richtig machen, müssen sie noch Händchen halten. Also noch mal der Hinweis auf die beiden Handball-Nationaltorhüter, an denen sich die Fußballer gefälligst mal ein Beispiel nehmen sollen – auch wenn Handball und Fußball natürlich zwei verschiedene Sportarten sind. Mit verschiedenen Regeln und verschiedenen Gewohnheiten.
Italienische Idee
von René MartensFür die gerade viel gepriesene Finte des Nürnberger Trainers Hans Meyer, eigens für das Elfmeterschießens den zweiten Torwart einzuwechseln, gibt es zumindest ein Vorbild: Mitte der 90er-Jahre wechselte der Coach des italienischen Drittligisten Castel di Sangrio im alles entscheidenen Aufstiegsspiel gegen Ascoli seinen zweiten Keeper – mit Erfolg. Die Entscheidung war noch ungewöhnlicher als die Meyers, denn der Ersatzkeeper hatte nicht, wie Nürnbergs Daniel Klewer, erst kurz zuvor seine Qualitäten als Elfmeterkiller bewiesen, sondern zwei Jahre lang gar nicht gespielt. Nachzulesen in Joe McGinniss‘ Buch „Das Wunder von Castel di Sangrio. Ein italienisches Fußballmärchen“. Siehe auch Seite 51 in dem Buch Elfmeter
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