Elfmeter – von Jägern und Gejagten
von Oliver FritschAls ich am Mittwoch mit meinem alten Freund Gerhard Gösebrecht das Chelsea-Spiel im Fernsehen sah, stellte er die nicht ferne liegende Frage: Wie sieht das eigentlich aus, wenn zwei englische Mannschaften gegeneinander im Elfmeterschießen antreten? Wie lange würde diese Chose dauern? Diese Fragen könnten am 21. Mai, beim Champions-League-Finale, erneut aktuell werden. Die Reporterfrage an Michael Ballack nach dem Spiel, ob er den Elfmeter in der Verlängerung deswegen seinem Kollegen Frank Lampard überlassen hat, weil er sich an die Regel gehalten habe, dass Gefoulte besser nicht selber schießen sollten, sei, laut Gösebrecht, falsch gestellt. An die Wahrhaftigkeit dieser Regel glauben inzwischen eh nur noch Steffen Simon, Franz Beckenbauer und seiner Jünger (was dann wiederum doch nicht so wenige sind). Stattdessen liege vielmehr eine neue Elfmeterregmel auf der Fuß: Der Engländer sollte nicht schießen (wenn auch ein Deutscher zur Verfügung steht). Dass Lampard für dieses Mal die Regel widerlegt hat, sollte uns nicht vorschnell von ihr abrücken lassen. Wir wissen ja, wie das ist mit den Ausnahmen …
Aber lassen wir die Frotzeleien, die wir uns ohnehin nur deswegen erlauben, weil es diesmal ja nicht daneben gegangen ist; sonst würden wir wieder der Schadenfreude bezichtigt. Außerdem wird in diesem Sommer kein Engländer in die Verlegenheit kommen, einen Penalty zu schießen. Aus dem Elfmeter kann man jedenfalls eine Wissenschaft machen – so wie die zwei Leipziger Soziologen Roger Berger und Rupert Hammer. (Ich bin durch einen Artikel des Mitbloggers Jürgen Kaube in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ darauf aufmerksam geworden.) Sie bejahen in ihrer Studie ihre Frage, ob man Elfmeterschüsse spieltheoretisch betrachten könne, also ob es eine keine eindeutige Gewinnstrategie gebe, weil das Ergebnis immer von den Entscheidungen beider Akteure, Schütze und Torwart, abhänge. Und zwar von simultanen Entscheidungen.
In ihren Vorbemerkungen schreiben die Forscher: „Die Schussgeschwindigkeit des Balles und die Ausmaße des Tors machen es zwingend erforderlich, dass der Torhüter sich für eine Ecke entscheidet bevor er eindeutig sehen kann, wohin der Ball fliegt. Der Schütze wiederum weiß, dass der Torwart nicht vor dem Moment der Schussabgabe in eine Ecke springen wird, da er sich sonst sämtlicher Abwehrchancen berauben würde. Ein Schuss in die jeweils andere Ecke würde dann den sicheren Torerfolg bedeuten. Die Elfmetersituation erfordert deswegen eine simultane Entscheidung.“ Auch in der FAS heißt es: „Der Torwart sollte springen, bevor er sieht, wohin der Feldspieler den Ball schießt, denn das spart ihm die Reaktionszeit von einer Viertelsekunde, und nur so hat er normalerweise eine Chance, einen platziert geschossenen Ball zu halten. Der Schütze wiederum sieht nur in den selteneren Fällen, wohin sich der Torwart bewegt, kann also seine eigene Entscheidung nicht vom Verhalten der Gegenseite abhängig machen.“
Zwar gibt es in der Tat Schützen, die sich vorher für eine Ecke festlegen und daher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in ihre Lieblingsecke schießen. Doch in meinen Augen ist die Prämisse in dieser Allgemeinheit formuliert falsch, zumindest was einige Elferexperten betrifft; wenn die zum Strafstoß anlaufen, handelt es sich keineswegs um simultane Entscheidungen zweier gleichberechtigter Akteure. Nehmen wir Roy Makaay, einen (fast) perfekten Schützen, seine Strategie geht (vermutlich, ich hab ich nicht fragen können) so: Er visiert eine Ecke an. Er beobachtet beim Anlauf den Torwart. Bewegt sich der Torwart nicht oder sehr spät, was allerdings sehr selten vorkommt, schießt Makaay in die geplante Ecke, und der Ball ist drin, weil der Torwart zu spät dran ist. Bewegt sich der Torwart vorher in eine Ecke, was er tun muss, um eine Chance zu haben, registriert das Makaay und schießt in die andere Ecke, gegebenenfalls, indem er den Schussfuß im letzten Moment leicht dreht. Das verlässlichste Signal für Makaay dürfte dabei die Hüfte des Torwarts und ihr Winkel zum Boden sein (weniger dessen Beine). Dazu muss man natürlich schnell und flexibel reagieren können. Und kühl sein. Wie Makaay eben. Andere Beispiele für diese Art der aus meiner Sicht erfolgversprechendsten Elfmetertaktik: Maradona, Mendieta, Butt, Breitner.
Und auch Fritsch (als der noch Elfer schoss). Mir hat das mal Wolfgang Overath in der Portas-Fußballschule beigebracht. Es funktioniert, ist aber auch Übungs- und vor allem Nervensache, besonders im Spiel. Bei einem Vereinsfest hab ich mal dem Torhüter in meinem damaligen Klub, der wirklich gut ist, zehn Stück von zehn reingetan. Wette gewonnen. Ihn immer verladen, meist Kullerbälle, nicht selten weniger als ein Stückchen neben seinen Fuß. Und das mit einem Bierglas in der Hand, aus dem ich nichts verschütten durfte (war Teil der Wette). Wenn ich im Fußball etwas wirklich gut beherrsche, dann ist es, betrunken Elfmeter zu schießen.
Natürlich ist diese Elfmetertaktik im Spiel nicht immer so leicht umzusetzen. Und es gibt auch Gegenmittel für den Torwart. Stefan Wächter aus Rostock hat im März diesen Jahres den Bielefelder Schützen Artur Wichniarek vorgetäuscht, in die rechte Ecke zu springen, blieb dann aber stehen. Den Schuss konnte er parieren, weil ihn Wichniarek sehr locker und sehr nahe an der Tormitte ansetzte. Ob das Elfmeterphänomen nun spieltheoretisch zu lösen ist? Das müssen nun wiederum die Experten beantworten. Jedenfalls ist Elfmeterschießen komplexer als sie es darstellen. Es gibt verschiedene Strategien und Gegenstrategien – wie das evolutionäre Ringen zwischen Jäger und Gejagtem.
Aber ja, bevor Sie fragen, auch ich hab schon Elfmeter verschossen.
So geht’s auch
Nur für Fortgeschrittene
Was für Cristiano Ronaldo
Kann passieren
Elfmeter können auch ins Auge gehen
Max Diderot schrieb am 3. Mai 2008:
Der italienische Schriftsteller Ugo Riccarelli hat in seinem wunderbaren Buch „Fausto Coppis Engel“ ein kleines Kapitel verfasst und diesem den Titel „Einen Elfmeter schießen müssen“ gegeben. Und frei der Assoziation, Fußball sei mehr als ein Sport, projiziert Riccarelli literarisch und quasi voraus ahnend seine eigene, damalige Lebenssituation mit dem verschossenen und entscheidenden Elfmeter Roberto Baggios im WM-Finale 1994 zwischen Brasilien und Italien. Und wer die Vorgeschichte dieser Malaise kennt, Baggio, ein bodenständiger Fußballer, war seinerzeit eine begehrte Handelsware und teuerster Transfer, mag über Fuß- oder Hüftstellung dozieren und kommt doch zum Schluss, dass das wichtigste Instrument (nicht nur im Sport) die mentale Determination ist.
Und wenn Peter Handke novellistisch behauptet, es sei „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, so wissen wir, dass es auch umgekehrt lauten kann: die Furcht des Schützen vor dem Elfmeter. Vor allem dann, und hier scheint der Rostocker Torhüter Stefan Wächter den Hauptgedanken der Handkeschen Ausführungen verinnerlicht zu haben, wenn er in Ruhe und Entschlossenheit die Ausführung durch den Elfmeterschützen erwartet.
Strike schrieb am 4. Mai 2008:
Hier auch eine Spieltheoretische Studie in KUrzfassung aus der FAS, der Links zur Langfassung steht unten in der Studie:
ockenfels.uni-koeln.de/uploads/ tx_ockmedia/2007-01-20_FAZ.pdf
PS: Wird Özil der neue Kroos?
franzferdl schrieb am 5. Mai 2008:
also, das sind schon sensationelle erkenntnisse. das wußte ich alles nicht. schön, dass sich die soziologie endlich mal mit etwas wichtigem & sinnvollem beschäftigt. wenn ich die „debatte“ zusammenfassen darf: es gibt also tatsächlich – ich glaubs immer noch nicht – 11m-schützen, die versuchen, den torwart auszugucken, um sich dann für die alternative richtung zu entscheiden. und es gibt darüber hinaus auch 11m-schützen, die einfach mir-nix-dir-nix eine ecke anvisieren, um den ball dort scharf & präzise zu versenken. der wahnsinn!!! ich flipp aus!
ach ja, noch was: es soll – ich habs mit eigenen augen gesehen, kanns aber noch nicht soziologisch verifizieren – 11m-schützen geben, die treffen, also das bzw. ins tor! der hammer! und es gibt – ich muss mich hinhocken – auch andere, die das tor NICHT treffen!!! unfassbar!!!
ein aufrichtiges dankeschön an die soziologie, dass sie dieses mysteriöse menschheitsrätsel mit allen ihr zur verfügung stehenden wissenschaftlichen mitteln endlich gelöst hat!
steffen schrieb am 5. Mai 2008:
Wie leider so oft auf dieser Homepage sind auch bei diesem Beitrag die Videos weg.
steffen schrieb am 5. Mai 2008:
Ach verdammt, ich meine: schön! Da sind sie ja. Ich hab die Seite geladen und eine Stunde offengelassen, weil ich sie noch lesen wollte, und dann meinte Youtube, die Videos seien nicht mehr „available“, und nach einmal neu laden gings auf einmal.
Marco_Bode schrieb am 5. Mai 2008:
Ist das legal, was Cruyff da macht? Gilt das Tor?
Oliver Fritsch schrieb am 5. Mai 2008:
Ja, das gilt. Der Ball muss bloß nach vorne gespielt werden. Dann ist er frei spielbar. Man kann in der Aufnahme allerdings nicht erkennen, ob sein Mitspieler nicht doch zu früh in den Strafraum gelaufen ist.
Christian schrieb am 7. Mai 2008:
Cruyff-Elfmeter: Beim Rückpass aufpassen – Abseits droht!