Hertha-HSV: Götterzorn trifft Sascha Burchert
von Oliver FritschAus dem Olympiastadion Auch das noch! In der Pause muss sich Sascha Burchert vor den Hamburger Fans warm machen, die den Berliner Ersatztorwart mit Applaus und einer Welle begrüßen, bejubeln, verhöhnen. Diesen armen Tropf, für den an diesem Abend nur dunkle Sterne brennen. Auf den es an diesem Abend die Parzen, die antiken Schicksalsgöttinnen, abgesehen haben.
Bis dahin ist alles Erzählenswerte passiert: Burchert wird in der ersten Halbzeit für den verletzten Timo Ochs unvorbereitet und kalt eingewechselt, um seinem Team, dem Tabellenletzten, das 1:1 gegen den Favoriten aus Hamburg zu sichern. Burcherts erste Aktion … nein, von Handlung darf im Nachhinein nicht die Rede sein – der erste Zornesgruß an Burchert: Er wird aus dem Strafraum gelockt, um mit dem Kopf per Hechtsprung zu retten. Gut gemacht, daher lauter Beifall seiner Fans für diese scheinbare und scheinbar heroische Tat. Doch werden Tausende Stimmen unmittelbar danach verstummen, denn den Ball lenken unsichtbare Kräfte einem Gegner Burcherts vor die Füße: David Jarolim, von dem nicht bekannt war, dass er so weit schießen kann, lupft aus über dreißig Metern ins verlassene Berliner Tor.
Doch die Parzen belassen es nicht bei diesem grausigen Willkommen. Keine zwei Minuten später jagen sie Burchert erneut durch dieselbe Wüste: wieder raus aus dem Strafraum, wieder Hechtsprung, wieder Kopfball. Diesmal senden sie den Ball zu ihrem Günstling Zé Roberto, der am Mittelkreis wartet. Der HSV macht innerhalb von zwei Minuten zwei empty net goals, einer im Fußball unüblichen Tor-Art. Man muss mit Superlativen vorsichtig sein, aber das dürfte einmalig in der Geschichte dieses Sports sein.
Das Mitgefühl aller Menschenkinder ist nach dem Abpfiff auf Seiten des Gequälten. Frank Rost, das Pendant im HSV-Tor, hält seinen Fans die „unnötige Häme“ gegenüber seinem jungen Kollegen vor. Trainer Bruno Labbadia kann sich nicht erinnern, Ähnliches erlebt zu haben. Herthas ungarischer Mittelfeldarbeiter Pal Dardai erklärt Journalisten mit beiden Händen: „Ist wie, wenn dein Chef deinen Artikel in Fetzen reißt. Ist wie, wenn dein Chef deinen Artikel mit Feuerzeug anzündet.“ Doch Dardais profane Veranschaulichung, so lebhaft sie ist, wird der Berliner Geisterstunde nicht gerecht.
Dieses Spiel ohne fußballerischen Höhepunkt entzieht sich jeder rationalen Analyse. Auch wenn die Presse noch so sehr nachfragt, auch wenn sich beide Trainer noch so sehr um Fachlichkeit bemühen. Die eigentlichen Fußballgeschichten sind an den Rand gedrängt, etwa die Friedhelm Funkels und seines Debüts als Hertha-Coach. Im Mai in Frankfurt wegen fünf Jahre dauernden graubärtigen Spiels entlassen, ersetzt er nun Lucien Favre. Welch ein defensives Signal durch die Hertha, den Klub, der im April noch auf den ersten Meistertitel seit 1931 hoffen durfte. Favre gilt als Schöngeist, Funkel als Pragmatiker ohne Visionen.
Oder die Geschichte Arne Friedrichs, des Hertha-Kapitäns, der in rufschädigendem Verdacht stand, absichtlich schlecht gespielt zu haben, um Favre in die Schweizer Heimat zu schicken. Friedrich hat sein Team früh in Führung geköpft – mit anschließendem, gemessen an seiner Nüchternheit, ausufernden Jubel, langem Lauf zu den Fans und Küssen auf das Hertha-Wappen seines Trikots. Oder die Geschichte Jérôme Boatengs: Vorige Woche legte er Arjen Robben und Franck Ribéry an die Kette, wurde in die Nationalelf berufen. Gegen Hertha ist er fahrig, reagiert oft zu spät, foult, wo ein cleverer Abwehrspieler nicht foult.
Doch an diesem Abend ist all dies unwichtig, klein, ungöttlich. Dieser Abend, an dem sich die Parzen feindlich abwärts gewandt haben und ihr gemeines Spiel mit einem geplagten Verein und besonders mit einem nicht mal zwanzigjährigen Fußballtormann trieben, lehrt die Demut von dem Unerklärlichen, dem Unwägbaren des Fußballs.
Hamburger, seid gewarnt! Wenn man bedenkt, dass auch Euer Ausgleich, ein seltenes Eigentor Kakás vom Elfmeterpunkt, durch einen göttlichen Eingriff zustande gekommen sein muss, solltet Ihr eine unbewiesene, aber deswegen noch lange nicht ungültige Fußballregel fürchten: dass sich alles ausgleichen wird, dass sich Pech und Fügung die Waage halten. Es könnte nämlich sein, dass Ihr gestern innerhalb von zehn Minuten das ganze Glück für eine Saison aufgebraucht habt. So wenig hat wohl noch nie eine Mannschaft tun müssen, um zu drei Toren zu kommen. Wenn die Parzen Ausgleich und Gerechtigkeit kennen, werden demnächst Gram und Jammer Hamburg grüßen.
Latze schrieb am 5. Oktober 2009:
Schöner Text!
Gabbo schrieb am 6. Oktober 2009:
Schon passiert. Mladen Petric fällt für den Rest der Hinrunde aus. So schnell kanns gehen.
Carlos schrieb am 6. Oktober 2009:
Sehr schöner Artikel und sehr richtiger Kommentar #2. Wenn die Fußballgötter ein Einsehen haben, dann lassen sie Labbadia schleunigst das „Zu-Null-Spielen“ trainieren…
Tobias (Meine Saison) schrieb am 7. Oktober 2009:
Gram und Jammer grüßten Hamburg im letzten Frühling gleich dreimal in 17 Tagen, in Bundesliga, Pokal und UEFA-Cup. Wem das noch nicht genug ist, der warte auf den 17. resp. 34. Spieltag.
Joerg schrieb am 20. Oktober 2009:
Vielleicht ist das „Glück“ für den HSV in diesem Spiel ja der Ausgleich für eine Papierkugel vor nicht allzu langer Zeit… 😉