„Das sieht aus wie 74“
von René Martens Wer in Büchern, in denen Fußball nur am Rande vorkommt, gern nach entsprechenden „Stellen“ stöbert, dem erleichtert Wilhelm Genazino mit seinem aktuellem Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ die Forschungsarbeit: Der Fußball spielt hier nur auf den ersten vier Seiten eine Rolle. Aus den geschilderten Umständen geht hervor, dass der Roman zu der Zeit spielt, als die EM 2004 stattfindet. Der Ich-Erzähler gerät in eine ihm vage bekannte Kneipe namens Sportlereck, gleich wird hier das für die deutsche Mannschaft entscheidende Gruppenspiel gegen Tschechien gezeigt. Die Atmosphäre: Prä-WM-06-Public-Viewing. Der Protagonist erzählt von den Menschen um sich herum: „Männer gehen zwischendurch nach draußen, laufen eine Weile umher, wenn sie zu erregt sind“, heißt es an einer Stelle, und das wirkt schon ein bisschen exotisch. Jedenfalls auf mich, denn ich schaue mir Fußballspiele nie in Kneipen an. Ist dieses Verhalten – mal eben rausgehen, sich sammeln, abkühlen – repräsentativ für Kneipenfußball-TV-Fans? In dieser vierseitigen Passage spielt sich ein surrealislistischer Vorfall ab, der sich als zentral für den Fortgang des Romans erweist: „Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr von mir liegen. Es muss mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein“). Auf diesen „Körperteilverlust“ bezieht sich der Ich-Erzhähler später immer wieder. Der Protagonist von „Mittelmäßiges Heimweh“ ist übrigens kein Fußballfan. Er kenne „keinen einzigen deutschen Spieler mit Namen“, erzählt er einmal. Und wenige Zeilen später: „Ein Mann beugt sich über meinen Tisch und sagt: Das sieht aus wie 74, jetzt kommt ein Konter, dann fällt ein Tor, und dann ist es aus, Sparwaser damals! Ich nicke, als wüsste ich, wovon er redet.“ Dazu fällt mit zweierlei ein: 1. Ich habe bei der Ãœbertragung von Deutschland-Tschechien vor drei Jahren nicht einmal ansatzweise an „74“ und Sparwasser gedacht. Vermutlich ist der Typ, der sich dem Ich-Erzähler hier verbal aufdrängt, kein besonders interessierter Fußballfan, sondern einer, der sich bei den großen Turnieren die wichtigen Spiele der Nationalmannschaft anschaut. 2. Der Ich-Erzähler muss schon eine sehr aus der Welt gefallene Figur sein, wenn ihm die Stichworte „74“ und „Sparwasser“ nichts sagen, aber so sind sie halt, die Protagonisten von Genazinos Romanen.
Der Autor selbst ist wahrscheinlich auch kein Fußballfan, jedenfalls sagt mir das eine Genazino-Expertin. Letztere These wird untermauert durch die einzige Formulierung, in der die EM im Roman später noch einmal vorkommt: „Die Fußball-Europameisterschaften sind immer noch nicht zu Ende. Aus Wohnungen und Wirtschaften dringt das Gebrüll der Zuschauer auf die Straßen.“ (S. 84) Den Begriff „Fußball-Europameisterschaften“ zu benutzen, wenn man ein einzelnes Turnier meint, ist unüblich (außer in der Schweiz). Die Formulierung „Fußball- Europameisterschaften“ findet man i.d.R. dann vor, wenn es um mehrere geht („Die Geschichte der Fußball-Europameisterchaften“ u.ä.). Anders verhält es sich mit Sportarten, die verschiedene Disziplinen umfassen, und in denen dann bei einer EM zahlreiche Titel vergeben werden. Der Satz „Die Leichtathletik-Europameisterschaften sind immer noch zu Ende“ wäre also normal bzw. wiederum auch nicht, weil man sich keinen Roman vorstellen kann, in dem er vorkommt. Kann aber auch sein, dass in dem hier zerpflückten Satz ein Tippfehler steckt, der nicht behoben wurde. Oder dass Genazino die ungewöhnliche Formulierung nach ausführlicher Überlegung gewählt hat und ich die dahinter stehende Intention nicht verstanden habe. Eine Leseprobe des Hanser-Verlags gibt es hier.
Linksaussen schrieb am 18. April 2007:
so sehr ich genazino schätze, diese formulierung ist ihm wohl mangels kenntnissen durchgerutscht. ich las mal ein interessantes interview mit ihm nach der büchnerpreisverleihung. man könnte wohl weltfremd sagen, wenn seine bücher nicht so sehr von der genauen beobachtung lebten. „aus der zeit gefallen“ finde ich eine passendere, weil treffendere und charmantere charakterisierung. allen literaturinteressierten (und dem ignoranten rest erst recht!) kann ich nur „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ empfehlen, gibts billig als taschenbuch. das buch hat damals meine leidenschaft für genazinos präzise sprachkunst entfacht.